Fischer*in sein. Das bedeutet: 3 Uhr morgens aufstehen, 4 Uhr mit dem Kutter auf die See fahren und die Netze auswerfen, wenn sich das erste rötliche Tageslicht im Wasser widerspiegelt. In geteilter Schweigsamkeit verbringt man seine Stunden auf dem Schiff, nur ein knappes Zunicken als Abschied. So geht Fischer*in, oder?
Ganz ungewöhnlich ist es dann, sich vorzustellen wie diese doch stillen und in sich gekehrten Fischer*innen vor einer Schulklasse stehen und über Meeresökosysteme sprechen, Reisegruppen anführen und sich Kutter mit Wissenschaftler*innen aus der Meeresforschung teilen. Doch genau das passiert gerade.
Die Ostseefischerei blickt auf eine über 500-jährige Tradition zurück. Heute steht sie jedoch vor völlig neuen Herausforderungen: Die Ostsee erwärmt sich zunehmend, leidet unter Sauerstoffmangel und die Fischbestände gehen teilweise dramatisch zurück. Doch nicht nur das marine Ökosystem gerät unter Druck. Auch die Fischereibetriebe selbst kämpfen seit Jahren mit einem akuten Nachwuchsmangel.
„Die Dramatik der jetzigen Situation ist einerseits das Ökosystem. In zweiter Linie auch sehr stark die Überalterung. Wir haben in MV [Mecklenburg-Vorpommern] ein Durchschnittsalter von 57 Jahren. Bei den Meistern ist es noch dramatischer. Die sind im Grunde schon im Rentenalter. Und wir haben einen krassen Nachwuchsmangel. Das Berufsbild der Fischwirtin/Fischwirt verzeichnet jetzt über die letzten Jahre Teilnehmerzahlen von null, einen oder drei Azubis – je nach Jahrgang. Da wird deutlich, dass ein Können und ein Wissen, das über Generationen an der Kaikante und an Bord weitergegeben wurde, auszusterben droht.“
Das sagt Martin Schlockwerder. Er gehört zu Sea Ranger e.V., einem Verein, der sich genau jener Herausforderung stellt. Seit 2023 bieten sie eine Zusatzausbildung für Fischer*innen zum/zur Geprüften Fachwirt*in für Fischerei und Meeresumwelt – oder auch kurz Sea Ranger – an. In dieser Zusatzausbildung erlangen Fischer*innen Wissen und Kenntnisse in rechtlichen Grundlagen im Bereich Meeres- und Naturschutz, Öffentlichkeitsarbeit sowie im Umweltmonitoring. Dieses breit aufgestellte Programm soll allen Absolvent*innen neue Möglichkeiten in ihrem Berufsfeld Fischerei eröffnen; und natürlich auch den Beruf für jüngere Menschen attraktiver machen.
Sea Ranger e.V. ist übrigens in seinem Format weltweit einmalig!
Es gibt namensgleiche Sea-Ranger Aktivitäten in den Niederlanden und Italien. Diese Formate basieren aber auf Küstenrenaturierung durch junge Menschen (Niederlande) bzw. auf Meeresschutz durch eine NGO (Italien). Die Praktik mit Fischer*innen gibt es bisher nur an der Ostsee.
Im Oktober 2023 startete der erste Durchlauf mit insgesamt elf Teilnehmern. Alteingesessene, aber auch Fischer der jüngeren Generation fanden sich im beruflichen Bildungszentrum Sassnitz ein und drückten dort gemeinsam die Schulbank. Referent*innen aus den verschiedensten Bereichen gaben Seminare zu den Themen Meeresbiologische Grundlagen – Besonderheiten Ostsee, Veränderungen der Meeresumwelt oder auch Historische Fischereifahrzeuge und Fangtechnik.
„Das ist die große Stärke der Ausbildung. Dass wir tatsächlich in dieser kurzen Zeit ausnahmslos hervorragende Referentinnen und Referenten gefunden haben, die ein sehr, sehr weites Feld von Stakeholdern abgedeckt haben. Den Rechtsteil beispielsweise hat der stellvertretende Biosphärenreservatsleiter von Südost-Rügen übernommen. Dann hatten wir aus dem Bereich Umweltschutz einen profilierten Umweltschützer, der ehemals Leiter der Naturschutzaußenstelle in Vilm war. Er hat auch durchaus kontrovers argumentiert und diskutiert mit unseren Fischern. […] Für die sozioökonomischen Themen hatten wir mit ceOS und ihren Projektpartnern aus dem Reallabor zusammengearbeitet. Und wir hatten einen profilierten Fischereihistoriker, der das Thema Fischerei im Wandel von der historischen Perspektive aufgesetzt hat.“
Das Center for Ocean and Society (ceOS) ist ein Forschungszentrum der Universität Kiel. Es untersucht, wie wir Meer und Küste nachhaltig nutzen können. Das ceOS gehört zum Uni-weiten Meeresforschungsnetzwerk „Kiel Marine Science“ (KMS).
Das Reallabor „Eckernförder Bucht 2030“ ist ein Projekt des ceOS, das gemeinsam mit lokalen Akteuren Lösungen für den Schutz mariner Lebensräume und nachhaltige Küstennutzung entwickelt.
Doch lange halten es Fischer*innen nicht drinnen aus. Deshalb kommt der Praxisanteil in der Zusatzausbildung nicht zu kurz. Es wurden unter anderem Exkursionen zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, zur Bundespolizeiinspektion See und zur Seenotrettungsstelle in Rostock-Warnemünde eingeplant. Besonders wertvoll waren die Forschungsausfahrten mit dem Forschungsschiff von GEOMAR, berichtet Martin Schlockwerder:
„Das war ein Kristallationspunkt. Dort ist die Kommunikation zwischen den Fischermannschaften und Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wirklich fruchtbar geworden. Das war der Punkt, wo wir gemerkt haben: Diese Idee bekommt Flügel.“
Die Gründe, in die Zusatzausbildung zu investieren, sind vielfältig: wirtschaftliches und naturkundliches Interesse oder auch die Bewahrung des kulturhistorischen Erbes der Fischerei spielen eine Rolle. Doch eines steht für alle Beteiligten außer Frage:
„Alle wollen Fischer bleiben, alle wollen selbstständig bleiben.“
Das betont Martin Schlockwerder ganz ausdrücklich.
Ein zentrales Potenzial liegt in der Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen. Dabei sind schon so einige Projekte entstanden. Detektion und Kartierung von Seegraswiesen mithilfe bildgebender Verfahren und Künstlicher Intelligenz, Ansiedlung von Zostera-Testfeldern (Algen) als ökologische Ausgleichsmaßnahmen, Mitwirkung am fischereilichen Monitoring, z. B. zur Dokumentation der veränderten Heringswanderung – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Aber nicht nur auf Forschungsschiffen sind die neu ausgebildeten Fischer*innen gefragt. Auch an Land verändert sich ihr Beruf. Tourismus, Umweltbildung und Kulturvermittlung werden zu wichtigen Standbeinen. In Vorträgen, Führungen oder an Schulen erzählen sie heute ihre Geschichten.
Im Sommer 2024 haben alle elf Fischer die Zusatzausbildung erfolgreich beendet. Der nächste Durchlauf startete schon im Winter 2024/25. Dieses mal mit Fischern aus Schleswig-Holstein.
Zum Abschluss unseres Gesprächs haben wir Martin Schlockwerder gefragt, welcher Moment ihm im bisherigen Prozess besonders in Erinnerung geblieben ist. Er muss nicht lange überlegen:
„Bei der Verleihung am 24. Juni [2024]. Da waren alle Fachwirte anwesend. Minister Backhaus hat die Urkunden überreicht. Es war eine richtig feierliche Zeremonie mit der ganzen Fachöffentlichkeit, Sonnenschein und Musik. Und vor allem: die Familien waren da. Die, die in der ganzen Zeit den Fachwirten den Rücken freigehalten haben. Da waren wirklich alle weich, auch die harten Kerle. Am Ende haben wir mit den alten Fischern zusammen gesessen. Wir haben natürlich gefeiert, draußen gesessen an einer langen Tafel und die Genüsse des Meeres vor uns gehabt. Dann kam ein alter Fischer dazu, eine markige Gestalt. Der hat nach anfänglicher Skepsis schließlich das alles sehr gern gesehen. Man trägt sein Herz ja nicht auf der Zunge und doch hat er dann den Satz gesagt:
‚Fischer wird man nicht, Fischer ist man.‚“
Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Martin Schlockwerder bedanken, der sich die Zeit genommen hat, unsere vielen Fragen zu beantworten. Wir wüschen Sea Ranger e.V. weiterhin viel Erfolg und hoffen, in der Zukunft noch mehr von ihnen zu hören!